Beim Lesen "auf den Hund gekommen"
Hier geht´s zum Blogbeitrag, den ich für die Rubrik “Leseförderung” für die Beltz-Verlagsgruppe geschrieben haben.
Natürlich ist der Beitrag auch auf meiner Seite zu lesen.
Bitte sehr:
Dienstag, 16. Januar 2024
Beim Lesenlernen »auf den Hund gekommen«
Henrick Clausing ist Trauerredner und -begleiter. Sein Therapiehund Filou ist immer an seiner Seite. Beide leben in einem Campingbus und machen jetzt Autorenlesungen mit Hund. Der Mann, der Filou seinen Kollegen nennt und der auch als Moderator, Sprecher und Musiker arbeitet, hat mit seinem Kinderbuchdebüt »Auf diese Pfoten ist Verlass! – Hunde im Einsatz« einen Knochen ausgebuddelt, der nun stolz von Filou den kleinen Pfoten-Fans in Grundschulen, Bibliotheken und anderen Einrichtungen präsentiert wird. Aber wie sieht die Arbeit mit einem Vorlesehund denn genau aus? Henrick Clausing erzählt von seiner Arbeit mit Filou.
Wenn ich mich mal wieder selbst dabei erwische, dass ich in einem unbeobachteten Moment mit meinem Hund Filou so rede, als wäre er ein Mensch und würde natürlich jedes Wort verstehen, dann muss ich meistens selbst kurz schmunzeln und hoffe, dass das jetzt bitte keiner mitbekommen hat. Wie peinlich, wenn mich jemand gehört hat! Oder doch nicht?
Hundepfoten zeigen den Weg aus einer Sackgasse
»Das ist mein Kollege Filou und ich bin Henrick.« So beginnen meistens die Leseabenteuer, die die Kinder durchleben, wenn sie mit meinem Therapiehund Filou und mir auf Lesereise gehen. Schon wenn Filou und ich am frühen Morgen z.B. eine Grundschule betreten, dann ist sofort »Ausnahmezustand« angesagt. Es dauert nicht lange, und mein Mitarbeiter mit der Fellnase (wie ich ihn auch gerne nenne) badet in einem Meer aus Kinderhänden. Er liebt es über alles! Denn erstens mag er es natürlich von den kleinen zarten Händen ausgiebig gekrault, gestreichelt und massiert zu werden. Zweitens lohnt es sich für ihn, auch mal die ein oder andere Hand abzuschlecken. Hier und dort findet sich immer noch ein kleines Überbleibsel vom Frühstück, wenn es beim Händewaschen morgens einfach mal wieder zu schnell gehen musste. Erst wenn alle Kinder Filou begrüßt haben und mir einige aufgeregte Kinder erzählt haben, dass sie ja tatsächlich auch ein Haustier haben, können wir loslegen.
Konzentriert läuft’s wie geschmiert
Alle Kinder sitzen stehen oder liegen so, wie es ihnen gefällt. Die Konzentration, die die Kinder dabei zeigen ist offenbar so außergewöhnlich, dass die Lehrkräfte mir am Ende wieder erzählen werden, wie überrascht sie sind, dass die Kinder so lange (ca. eine Stunde oder länger) so ruhig bleiben konnten.
In dieser Zeit bekommen die Kinder die coolsten Hunde vorgestellt und welche Aufgabe sie in unserer Gesellschaft haben. Natürlich werden die Kinder auch Filou zeigen, wie gut es mit dem Lesen schon klappt. Einzelne Abschnitte werden (sogar mit Mikrofon) vorgelesen. Manchmal bekommt Filou auch präsentiert, was Tandemlesen eigentlich ist.
Warum all das so außergewöhnlich gut funktioniert: Kinder spüren, dass der Hund sie so nimmt, wie sie sind. Er hat keine Vorurteile gegenüber den Kindern. Es spielt für ihn keine Rolle, ob jemand schon super lesen kann oder eher noch dabei ist, sich in der deutschen Sprache eine Identität zu entwickeln. (Die Liste könnte endlos fortgeführt werden…)
Filou entscheidet immer aus dem Moment heraus und nutzt dabei die älteste soziale Gleichung, deren Rechnung immer das gleiche Ergebnis hervorbringt. Bist Du lieb zu mir, dann bin ich lieb zu Dir. Dieses »Naturgesetz« schafft Sicherheit, Vertrauen und Bindung. So entsteht ein geschützter Raum für Kinder, in dem sie sich und ihre Fähigkeiten ausprobieren können. Der Leistungsdruck schwindet sofort. Bewertungssysteme wie Lob, Kritik für die Leistung werden unwichtig. Es ist auffällig, dass die Kinder, im Augenblick des Lesens, wirklich dem Hund vorlesen und nicht dem Lehrer, den Eltern oder den anderen Kindern.
Lesen darf nie Selbstzweck sein
Natürlich ist es auch wichtig, dass die Kinder etwas lesen, was sie sehr interessiert. Da Kinder die wunderbare Fähigkeit besitzen, alles um sie herum zu vergessen, wenn sie von etwas fasziniert sind, ist es nicht verwunderlich, ihr Fokus in diesen Lesestunden voll und ganz dem Thema Hund gewidmet ist.
Stolz lesen und lernen die Kinder Dinge, die sie in diesem Augenblick für das Wichtigste auf der ganzen Welt halten: Hunde, Hunde, Hunde. Natürlich wird der Lesefluss immer wieder unterbrochen und die Kinder erzählen von ihren eigenen Erlebnissen mit Hunden. Einige Kinder haben schon einmal einen Polizeihund wie Loki oder eine Blindenführhündin wie Josie gesehen. Allerdings eine Cyberspürhündin wie Chipsy oder einen Wasserrettungshund wie Lonzo noch nicht. Von ihnen zu erfahren, löst oft Bewunderung für die Helfer auf vier Pfoten aus und das oft bei Kindern und Lehrkräften.
In der Schule oder daheim am Küchentisch versuchen die Erwachsenen den Kindern oft (aus einer gewissen Verzweiflung heraus) nahezulegen, irgendetwas zu lesen – Hauptsache täglich. Der Erfolg bleibt meistens überschaubar.
Wer um des Lesens willen liest, wird nur schwer Lust und Freude für den Leseprozess als solches beim Zusammenziehen von Buchstaben entwickeln. Verständlich! Denn unser Gehirn (also zumindest meines) will nichts machen, was letztlich von ihm nur als sinnlose Verschwendung von Energie klassifiziert wird. Da geht das Oberstübchen schnell in den Standby-Modus über.
Bei mir passiert das von Natur aus. Ich habe AD(H)S und ich möchte es mal so sagen: Für mich gibt es nur zwei Arten von Texten.
1. Texte die, ich lesen muss, um etwas zu erfahren.
2. Dinge die ich wissen will.
Das ich bei Nr. 2 nicht mehr geschrieben habe, dass ich ja auch hier lesen muss, ist ausnahmsweise mal nicht meiner besonderen »AD(H)S-Begabung« geschuldet, die mich befähigt, problemlos schon in einen nächsten Gedanken zu hüpfen, wenn der aktuelle noch nicht abgeschlossen ist, sondern der Tatsache, dass das Lesen eben nicht mehr als ein lästiges Muss wahrgenommen wird, wenn das Gehirn gierig nach dem ist, was sich hinter diesem Buchstabenwirrwarr verbirgt. Das Lesen als Prozess ist dann gar nicht mehr greifbar.
Mit Vorlesehunden neue Welten entdecken
Wer von sich behauptet lesen zu können, der denkt beim Lesen nicht über das nach, was er oder sie gerade tut, sondern über das, was im Text steht.
Ein Vorlesehund bildet eine Brücke aus Einfühlung, Ruhe und jede Menge weichem Fell zu einer Welt, die sich hinter dem Vorhang aus Buchstaben verbirgt. In dieser Welt heißen die Länder wie die Themenbereiche einer gut sortierten Präsenzbibliothek und es kommen immer neue hinzu. Wer einmal eine Pfote in diese Welt gesetzt hat, für den oder die wird es keine Leinenpflicht (sorry: Lesepflicht) mehr geben. Sie wird zu einer Freude.
Auf diese Pfote ist Verlass!
Weitere Informationen:
Sie möchten Filou kennenlernen? Mehr zur Leseförderung mit Hund an Grundschulen finden Sie hier.